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7. Ausgabe

Konversationsübungen im herbstlichen Bydgoszcz

Man hatte mich vor dieser Stadt gewarnt. Bydgoszcz sei hässlich, sagte mir eine polnische Bekannte. Warum ich nicht nach Danzig oder Krakau fahren würde, fragte eine andere Polin, die ich an der Universität in Koblenz traf. Weil die Germanistik der Universität Koblenz – Landau nun mal mit der Akademia Bydgoska einen Kooperationsvertrag hätte, hatte ich trotzig geantwortet. Was ich denn im Oktober in Polen wolle, hatten meine deutschen Mitstudierenden wissen wollen. „Zusammen mit drei anderen Studierenden von hier Konversationsübungen mit polnischen Germanistikstudenten durchführen“, hatte ich bereitwillig als Auskunft gegeben.

Die Reise in den „Wilden Osten“ hat für die Mehrheit der Westdeutschen immer noch eine gewisse Exotik und den Beigeschmack eines Survival-Trips der besonderen Art. Hartnäckig halten sich Klischees und scheinbar liebgewonnene Stereotype. Polen ist für einen großen Teil meiner Landsleute immer noch ein eher armes und rückständiges Land mit einer hohen Kriminalitätsrate. Und es ist für viele ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ich hatte in meinem zwanzig Jahre alten bayrischen Schulatlas nach Bydgoszcz gesucht und die Stadt nicht gefunden. Erst der Blick ins Register klärte mich auf. "Bydgoszcz = Bromberg“ stand da zu lesen.

Mir fiel zuerst zu Bromberg nur der so genannte „Bromberger Blutsonntag“ ein, über dessen Verlauf und Hintergründe ich nichts weiter wusste, als das er zu Beginn des 2. Weltkriegs in Polen stattgefunden hatte. Und schon sind wir bei einem Thema, dass immer mitfährt, wenn Deutsche nach Polen fahren: „Die Vergangenheit“. Wir schreiben das Jahr 2002. Sicherlich möchten mir manche entgegenhalten, dass das alles noch ein Problem unserer Großeltern und Eltern war und nicht mehr das unsrige. Und dennoch kenne ich dieses klamme Gefühl noch aus persönlichen Gesprächen bei meinen letzten Besuchen in Polen in den 90er Jahren. Aber meine damaligen Gastgeber waren mehrheitlich weit vor 1945 geboren.

„Wie war’s in Polen? Wie war’s in Bydgoszcz?“ Wenn mich jetzt meine deutschen Mitstudierenden in Koblenz nach meinen Erfahrungen fragen, dann kann ich nur sagen: „Ich fand es toll! Wir haben aufregende und interessante 14 Tage erlebt.“ Was ich mitgenommen habe, sind Eindrücke von einer neuen Generation von polnischen Studenten. Wir haben viel über Ängste, Hoffnungen und Zukunftsaussichten diskutiert und haben dabei - trotz vieler Unterschiede - nicht wenige Gemeinsamkeiten entdeckt.

Überhaupt war das Gefühl der Exotik spätestens in dem Augenblick auf ein „Minimal“-Maß reduziert, als wir in der Nähe unserer Unterkunft in einem Studentenwohnheim einen „Minimal“ - Supermarkt entdeckten. Längst vorbei die Zeit, die mein alter Polnisch-Sprachführer Ende der 80er Jahre noch beschreibt. Ich zitiere: „Der augenfälligste Unterschied ist, das nur ein oder zwei Produktsorten angeboten werden, statt sieben oder acht – wie bei uns.“

Für einen nicht sensibilisierten Zugereisten sind die Hinterlassenschaften des Staatssozialismus im Alltag nur noch im Städtebau erkennbar. In der Innenstadt präsentiert sich Bydgoszcz allerdings als eine mondäne und quirlige polnisch-„preußische“ Stadt. In der Gdanska mit ihrer Architektur der Jahrhundertwende fühlte ich mich wie auf einem Spaziergang durch die schönsten Ecken des Stadtteils „Mitte“ in Ost-Berlin. Unser Studentenwohnheim und das Institutsgebäude lagen abseits des Stadtzentrums und waren 20 Minuten Fußweg voneinander entfernt. Beides sind nüchterne Plattenbauten, die ich mir mit etwas Fantasie auch in Leipzig oder Magdeburg vorstellen könnte, inklusive der sie umgebenden Plattenbaugebiete.

Wir Deutschen, die auch ohne sozialistische Indoktrination an Plan und Plansoll glauben, fühlen uns durch die polnische Improvisiergabe natürlich immer wieder aufs Neue herausgefordert. So kam der Stundenplan, der uns am Tag unserer Ankunft in die Hand gedrückt wurde, gerade rechtzeitig, um unsere Stoffpläne auf ihre realistische Umsetzbarkeit zu überprüfen. Was in Deutschland in Stress und Hektik ausgeartet wäre, wurde unter Einfluss des polnischen Klimas lässig und souverän umgesetzt.

Meine Lerngruppe am Institut war anfangs eher zurückhaltend, andererseits im privaten Gespräch sofort lebhaft und herzlich. Vielleicht war auch die ungewohnt persönliche Art und Weise, mit der ich Lebenswelten im aktuellen deutschen Roman und Film ihren eigenen Erfahrungen gegenüberstellen wollte, der Grund dafür, dass erst allmählich das Eis zwischen uns gebrochen ist. An schlechten Sprachkenntnissen kann es eigentlich nicht gelegen haben, denn jeder konnte flüssig in den folgenden Diskussionen seinen Standpunkt behaupten.

Schon lange habe ich nicht mehr so viel diskutiert wie in Polen, ob während der offiziellen Konversationsübungen oder am Abend im „Akademik“ oder in irgendeiner Kneipe.

Fazit: Trotz aller Ängste schauen die meisten polnischen Studierenden, mit denen ich gesprochen habe, letztlich optimistisch und mit viel Selbstvertrauen in ihre Zukunft. Der Euroskeptizismus hält sich unter ihnen in Grenzen, denn viele sehen im Beitritt zur EU eine Chance für die polnische Wirtschaft und damit für sich selbst. Für manche ist der Kapitalismus sogar eine neue Heilsreligion und die EU eine Art Freihandelszone, in der sich der Bessere durchsetzt.

Für viele Studierende ist es eine Selbstverständlichkeit, sich in Deutschland einen Ferienjob zu suchen, um als billige Saisonkraft so viel zu verdienen, dass man während des Semesters sein Auskommen hat. Einige unserer Gesprächspartner dachten sich aber das deutsche Studentenleben ein wenig zu idyllisch. Sie konnten kaum glauben, dass der größte Teil der Studenten in Deutschland neben ihrem Studium arbeiten muss. Auch unser föderales Bildungssystem erregte viel Kopfschütteln. Wie kann es sein, dass ein Bundesland die Abschlüsse des anderen nicht anerkennt?

Der Verfasser dieser Zeilen weiß auch keine Antwort. Auch wird er trotz eines zweiwöchigen Crashkurs niemals entscheiden können, ob Polnisch oder Deutsch die schönere Sprache ist. Und selbst bei den Frauen bleibt mir nur die diplomatische Lösung Heinrich Heines, nachzulesen in seinem Essay „Über Polen“: „In einem sonnenhellen Blumentale würde ich mir eine Polin zur Begleiterin wählen; in einem mondbeleuchteten Lindengarten wählte ich eine Deutsche.“

Klaus Christ

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